Bildräume
Man muss das Chaos in sich tragen, um einen tanzenden Stern gebären zu können.
(Friedrich Nietzsche)
Über die Auseinandersetzung mit dem abstrakten Expressionismus gelangte Andreas Durrer zu einer gestisch bestimmten Malweise. Seine lyrisch-abstrakten Arbeiten auf Leinwand und Papier bauen auf den Dialog von Farbfeld und Linie auf, erinnern an gewachsene Strukturen, an geologische oder landschaftliche Formationen. Gegenständlichkeit ist aber keineswegs beabsichtigt. Das Grundthema seiner Malerei ist vielmehr die Wahrnehmung des Bildraums als ein mehrschichtiges, autonomes Gebilde.
Durrer arbeitet mit Pinsel, Spachtel und Farbtube an der Staffelei und verwendet grösstenteils Acrylfarben auf Wasserbasis. Seine Palette besticht durch einen differenzierten Farbreichtum: Neben leuchtenden Primärfarben entfaltet sich das Spektrum der Zwischentöne und dezenter Graunuancen. Stellenweise kann das "Malen" direkt mit der Tube den traditionellen Pinselduktus ersetzen. Mit dem Zusatz von Materialien, wie Stein- und Marmormehl, verschieden reflektierenden Bindemitteln, wird die Farbe mattiert und erhält einen taktilen Charakter. Zusätzlich unterstützt der Maler die Materialität des Bildkörpers durch das Auftragen von Spachtelmasse.
Die Bildelemente scheinen auf verschiedenen Tiefenzonen angesiedelt zu sein. Durrer erreicht diese Wirkung durch Schichtenbildung. Die Komposition entwickelt sich im Prozess über Hervorhebungen und Übermalungen. Gezielt setzt der Künstler auch die Grundierung als Farbton ein und transportiert so die räumlich hinterste Schicht nach vorne. Bisweilen wie ein dichter Film angelegt, versperrt sie den Blick, während transparente Lasuren die Tiefenwahrnehmung auf darunter liegende Farbflächen ermöglichen. Im abgeschlossenen Bild sind so gleichzeitig Teile aus verschiedenen Übermalungsstadien sichtbar. In der simultanen Anlage der wechselseitigen Durchdringung wird die Bildarchitektur so als zeitliche und räumliche Schichtung erkennbar.
Porta
Begeben wir uns auf Spurensuche und betrachten das Werk "Porta" von 2010. Durrer selbst misst diesem Bild besondere Bedeutung bei. Eine aufstrebende lineare Form weckt die Vorstellung einer Öffnung. Sie fängt den Blick und führt in ein helles Zentrum, beherrscht von Elfenbeinweiss und marmorartigen, zarten Grautönen. Rechts und links dieser Porta sind Felder in verschiedenen Farben und Grössen versammelt. Auf der rechten Bildseite erscheinen stumpfe Grau- und Brauntöne, wie aufeinander gestapelte, kleinere und grössere Bruchsteine einer alten Mauer. In die verhaltenen Farbtöne nisten sich leuchtende Flächen ein. Kräftiges Orangerot ruft und findet sein Echo im weitaus schmaleren linken Bildteil. Hier antwortet kühles Stahlblau auf die orangerote Verführung. Während der malerische Duktus vorwiegend die Vertikale und Horizontale betont, ist die Diagonale seltener zu finden. Manchmal schlägt der Pinsel auch heftiger aus: Kleinteilige, schwarze Kritzelbewegungen im linken Bildteil finden ihr Gegenüber auf der rechten Bildseite in einer dynamischen Verdichtung. So wechseln Zonen von verstärkter und geminderter Aktivität und setzen die fragile Öffnung der "Porta" prominent in Szene.
Deutet der Titel "Porta" zunächst etwas Gegenständliches an, öffnet sich der Begriff über den Betrachtungsprozess ins Metaphorische. Tore markieren Grenzbereiche, sind Übergangszonen und verbinden Inneres und Äusseres. Beim visuellen Betreten des Gebietes öffnet sich ein Bildraum, in dem Farben und Formen ihr Eigenleben entfalten, sich durchdringen und überlagern. Über den malerischen Verdichtungsprozess entstehen neue Bedeutungsräume - Resonanzkörper für Erfahrenes und Erinnertes. Dieses Tor ermöglicht die Erschliessung von visuellem Neuland.
Porta, 2010,
110 x 140 Acryl auf Leinwand
Bildtitel
Wie beim Werk "Porta" beschrieben eröffnen die assoziativen Bildtitel eine weitere Dimension der Betrachtung. Häufig entstehen sie erst, nachdem das Bild fertig gestellt worden ist – das Gesehene, Gefühlte kann nun in Sprache übersetzt werden. Poetische Bezeichnungen wie "First Sprouting" oder "Himmel hoch" führen ins Reich der Imagination. In "l’hiver" transportieren die zarten Farben kristalline Kälte eines froststarren Morgens. Andere Titel wie "Symbiotischer Dialog" erscheinen wie Kommentare zum Bildgeschehen und verweisen direkt auf den malerischen Austauschprozess zwischen Autor und Bild. Konkrete Farbbezeichnungen, wie "Rot" oder "Gelb", entfalten ihre Farbenergie und ihren Ausdrucksreichtum als Bildthema auf der Leinwand.
Besonderer Art sind die Bildtitel, die direkt auf Gegenständliches referieren wie "Wings", "Forelle blau" oder "Kopf".
In "Wings" überlagern sich mehrere lineare Gebilde gleich Flügelschlägen – Bewegung überträgt sich in die Vibration der Bildfläche. Eher selten ist eine Konkretisierung der Form wie bei der Arbeit auf Papier "Kopf". Auf kraftvollem, orangerotem Grund verdichtet sich die nervös-bewegte Linie zu einem kopfartigen Gebilde, das auf einer horizontalen Balkenform balanciert. Weder Augen, Mund noch Nase sind erkennbar. Vielmehr begegnet uns eine blicklose Maske, die, mit halluzinatorischer Kraft ausgestattet, an primitive Kulturen erinnert.
Humorvoll schon fast der Titel "Forelle blau". Vergeblich sucht das Auge nach einem Fisch - Objekthaftes verliert sich in Gestus und Farbfluss. Vielmehr begegnet uns kräftiges Blau, schwimmend im dunklen Braun.
Die Bildbezeichnungen von Andreas Durrer fordern eine Metaebene der Betrachtung ein. Sie beschwören Dingliches, ohne es direkt abzubilden. So wird das "wiedererkennende Sehen" enttäuscht und das "sehende Sehen" gefordert. (Imdahl 1996, p. 303) Nicht das Tier begegnet uns in "Forelle blau", sondern Farbwerte, Flächen und Linienstrukturen. Es geht also nicht um das Herstellen von Gegenstandsbezug, eher um eine Bildrealität als Ordnungsgefüge und Assoziationsraum.
Gleichgewicht der Gegensätze
Durrers Bilder bestechen nicht durch die Heftigkeit des Malvorgangs. Keine eruptiven Malgesten, ungestümen Pinselstriche oder wilde Farbspritzer durchziehen die Bildformate. Nicht Protest, Zerstörung oder Drama walten auf diesen Bilderbühnen. Vielmehr sind eine positive Energie und elegische Grundstimmung bezeichnend.
Wie erreicht der Maler diese Ausgewogenheit seiner Werke? Der physische Malakt wird kontrolliert und dem Zufall genügend Raum überlassen. Es geht darum, das Bildfeld unter Spannung zu setzen, ohne daraus eine Kampfzone zu machen. Expressive Kritzelgesten erinnern zwar an die "Écriture automatique", den psychischen Automatismus der Surrealisten, werden aber in zeitlicher Distanz und als quasi informelles Zitat vorgeführt. Die expressive Geste erscheint hier nicht als unbewusste Notation einer psychischen Befindlichkeit oder als existentieller Aufschrei. Vielmehr wird sie als bewusst kontrolliertes Kompositionselement akzentuierend eingesetzt und balanciert das Bildgefüge aus.
Durrers Strategie des Austarierens besteht darin, gegensätzliche Kompositionselemente wie Statik und Bewegung, Geschlossenheit und Offenheit, Fläche und Tiefe in die Bildgestaltung zu integrieren. Polare Kräfte begegnen sich wie Weiches und Hartes, Schweres steht gegenüber Leichtem, Linearität wechselt mit Flächigem und Stumpfes kontrastiert Glänzendes. Der Reichtum an Ausdruckmöglichkeiten ist gross. Die Versöhnung dieser Oppositionswerte gelingt nur durch sensibles Reagieren und Balancieren der Gewichte – ein Zuviel oder Zuwenig kann die Spannung der Komposition zerstören.
Nähe und Distanz
Von den Gestaltungsprinzipien eines Paul Cézanne gingen entscheidende Impulse für die Malerei von Andreas Durrer aus. Vor allem der von Cézanne geprägte Begriff des "réaliser" beeinflusste sein Schaffen. Gemäss Gottfried Boehm fasst dieses Verb "verschiedenste Aspekte in ein Tun zusammen: das Sehen und die Ansichtigkeit der Natur, reflektieren und malen." (Boehm 1988, p. 54) Diese doppelte Tätigkeit setzt wiederum unterschiedliche Wahrnehmungsebenen voraus.
Kennzeichnend für die Realisation ist das Verhältnis von gleichzeitiger Hingabe und Distanznahme beim Malen. Gefordert ist eine selbstreflektive Haltung des Autors seinem Bild gegenüber, was gleichzeitig das Im-Bild-Sein verhindert. Andrerseits unterbindet die Versenkung ins Bild eine Übersicht der Lage. Der Künstler bewegt sich seinerseits denkend-fühlend im Bildraum und muss den Bildraum verlassen, um im Überblick die Komposition zu beurteilen. Ideal wäre eine simultane Sichtweise, sich zugleich inner- und ausserhalb des Bildes zu befinden. Das verlangt einen schnellen Wechsel zwischen den verschiedenen Bewusstseinsebenen. Die Hand mutiert zu einer Art beweglichem Auge, das die Aktion und die Komposition reguliert. Die Suche nach Ent-grenzung, um neues Territorium zu erschliessen, den Zufall einzulassen, und die gleichzeitige Kontrolle der Bildfindung, des Be-grenzens, sind ein komplexer Vorgang zwischen gesteuerter Interaktion und provoziertem Kontrollverlust.
Dabei geht es bei Andreas Durrer weniger um eine gesehene Natur als vielmehr um die Vision eines inneren Bildes. Der Künstler spricht von einem "Idealbild", das nicht konkret fassbar, aber immer präsent sei und den schöpferischen Prozess lenke. Die Suche nach diesem Vorbild beginnt mit der Aufhebung des Ursprungszustands der leeren Leinwand. Mit der Setzung des ersten Pinselstrichs wird die ursprüngliche Ganzheit gestört – es entsteht ein Ungleichgewicht. "In dem Moment, wo ich etwas definiere, begrenze ich", sagt der Künstler. Jeder malerische Eingriff stellt demnach eine Einschränkung dar, die es im Malprozess zu überwinden gilt. Die Bildgenese wird so zu einer Auseinandersetzung mit den selbst gesetzten Begrenzungen. Das innere Bild, übersetzt in eine Bildarchitektur, erscheint als deren Äquivalent auf der Leinwand - der Urzustand der leeren Leinwand wird im Malakt in einen höheren Aggregatszustand versetzt.
Parallel dazu versucht Andreas Durrer das Bild aus Distanz neu zu sehen, die Komposition aufzubrechen, um die eigenen Bildgrenzen zu überwinden. "Ich muss mich von meiner Bildhaftigkeit distanzieren, um zum gemalten Bild zu gelangen," betont der Künstler. Der kontrollierende Sehprozess muss ausgetrickst werden, um mit "unschuldigem Auge" die Komposition neu zu beurteilen. Dabei hilft ihm das "gestreute Sehen". Über das Fixieren eines Punktes ausserhalb der Bildgrenze erscheint die Komposition an der Peripherie des Sehfeldes als schemenhafter Überblick. Mit der Wahrnehmung des Bildes aus dem Augenwinkel überlistet der Maler seinen eigenen Sehprozess, die Kontrolle durch Fokussierung wird dadurch gemildert und das Bild in eine neue Dimension von Vorgegenständlichkeit gerückt. Auf diese Weise verschränken sich im Bild das Gewordene und das Gemachte.
Nähe und Distanz bestimmen auch Durrers Verhältnis zur Tradition. Bewusst grenzt sich der Künstler von der Aktionskunst des abstrakten Expressionismus durch seine klare Haltung ab. Die von Emotion und Spontaneität geprägte Malerei der Vätergeneration wird hier durch ein reflektierendes, schon beinahe konzeptionelles Vorgehen entmystifiziert. Durrer reflektiert und übersetzt das informelle Vokabular als ein Kräfteverhältnis auf der Leinwand. Durch den Einsatz von gegensätzlichen Bildelementen und dem Ausloten malerischer Mittel erzeugt der Künstler Spannungsverhältnisse ohne Drama. Damit zeigt er eine erweiterte Position des malerisch-zeichnerischen Informel im 21. Jahrhundert.
Das Auge des Betrachters
Mit sinnlicher Präsenz verführen die Werke von Andreas Durrer und verlocken dazu, die Bildräume und deren Machart zu erkunden. Unterstützt durch die assoziativen Titel erschliesst das Auge des Betrachters die Bildarchitektur, ja, es erschafft sie neu, indem es den schöpferischen Prozess nachvollzieht und mit eigenen Erinnerungen speist. Diese Partizipation führt zu einer Verschiebung der Subjektivität, "so dass das Subjekt eines Kunstwerks nicht der Autor sondern der Betrachter wird." (Crimp 2002, p.152) Nicht nur emotional angesprochen ist der Rezipient. Über die Wahrnehmung des Malprozesses rückt das Kognitive ins Zentrum. Die Frage, was ich eigentlich sehe, wenn ich sehe, führt zur Untersuchung der eigenen Bildwahrnehmung. Das Auge erkennt dabei jede gemalte Setzung als Farbmaterial und Bildbaustein innerhalb eines bildnerischen Zusammenhangs - begreift die Malerei als das "Resultat eines Gefüges von Bedingungen"(Heuwinkel 2010, p.308).
Durrers Bilder führen zur Frage, was ich eigentlich sehe, wenn ich sehe. Die Bildfläche wird so zum Ausgangspunkt für eine Untersuchung des Malprozesses – aber auch des eigenen Sehens und Empfindens.
Iris Kretzschmar
Literatur
Heuwinkel 2010
Nicola Carola Heuwinkel: Entgrenzte Malerei. Art Informel in Deutschland, Heidelberg Berlin 2010.
Boehm 2008
Gottfried Boehm: Die Form des Formlosen - Abstrakter Expressionismus und Informel. In: Ausst.-Kat. Action Painting, Fondation Beyeler, Riehen 2008.
Painting on the Move 2002
Douglas Crimp in: Es gibt kein letztes Bild. Ein Gespräch zwischen Phillip Kaiser und Douglas Crimp. In: Painting on the Move. Herausgegeben von Bernhard Mendes Bürgin, Ausst.-Kat. Öffentliche Kunstsammlung Basel, Basel 2002.
Kunst des Informel 1997
Kunst des Informel. Malerei und Skulptur nach 1952. Herausgegeben von Tayfun Belgin, Ausst.-Kat. Museum Ostwall Dortmund, Köln 1997.
Imdahl 1996
Max Imdahl in: Cézanne – Braque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Reflexion – Theorie – Methode. Herausgegeben von Gottfried Boehm, Frankfurt am Main 1996.
Boehm 1988
Gottfried Boehm: Paul Cézanne Montagne Sainte-Victoire, Frankfurt am Main 1988.
Iris Kretzschmar
geboren 1959 in Hamburg. Fachklasse für Bildende Kunst an der Schule für Gestaltung Basel. Studium der Kunstgeschichte, der klassischen Archäologie und wissenschaftlichen Fotografie an der Universität Basel. Arbeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kunstmuseum Basel. Mitarbeit an verschiedenen Ausstellungsprojekten für das Museum für Gegenwartskunst, Katalogbeiträge. Seit 1999 Dozentin für Kunstgeschichte an der Schule für Gestaltung Basel. Arbeitet als freischaffende Kunstsachverständige und Kunstvermittlerin.