BNN - Kultur, Karlsruhe, 16. Februar 2019
„Urban Art“ von Patrizia Casagranda bei Oess
Die aus Italien stammende Wahl-Krefelderin Casagranda spielt mit dem Betrachter auf verschiedenen Ebenen. Denn wer die Neue Kunst Gallelly betritt, dem blicken zunächst einmal rund ein Dutzend schöne, ebenmäßige Frauengesichter unterschiedlicher Ethnien entgegen. Es sind allerdings keine Porträts im herkömmlichen Sinn, denn durch die Verwendung von „Stencils“ — Schablonen, die im Graffiti-Bereich zum Einsatz kommen — und die Überlagerung von Text und Bild bekommen die jungen Frauen etwas Allgemeingültiges. Dabei besteht ein großer Kontrast zwischen ihren aufgerasterten, großgezogenen Gesichtern und dem unregelmäßigen, unruhigen Hintergrund,der aufgrund des recht traditionellen, deutlich an den Keilrahmen angelehnten Formats irritiert. Dies rührt von den besonderen Bildgründen, die Casagranda verwendet, für die sie im Wortsinn Upcycling betreibt, denn alte Schuhkartons, ausrangierte Autoreifen, alte Tischplatten, indische Saris,
aber auch eine hunderte Jahre alte Rupfenleinwand dienen ihr als Malfläche.
Malen auf Müll von indischen Sammlerinnen
Mit diesen Materialien bezieht sie sich direkt auf die der indischen Kaste der Kabelia zugehörigen Menschen. Casagranda lebt zwei- bis dreimal im Jahr in Indien in einer Künstlerkooperative und erlebt dort jeden Morgen dasselbe Ritual: Die jungen Mädchen, die dieser Kaste angehören, sind Müllsammlerinnen. Sie erledigen ihren Job meist zu mehreren, und trotz der wenig ansprechenden Tätigkeit empfindet sie die Frauen als würdevoll und war fasziniert von ihnen.
Casagrandas Bildgründe bestehen daher aus den Materialien, die sie sammeln. Gleichzeitig porträtiert sie in der Serie „Beliefs“, die sie bei Michael Oess zeigt, Frauen verschiedenen Glaubens. So sind die Porträts auch als Interpretation der Weltreligionen zu verstehen, bei denen der Künstlerin die Gemeinsamkeiten, das verbindende, die ihnen einbeschriebenen Werte besonders wichtig sind. „Diversity“ ist ihr ein wichtiges Schlagwort, die Vielfältigkeit — aber auch der dafür nötige Respekt und die Toleranz — fängt sie in ihren Kunstwerken mit wenigen Elementen ein: Hier ein zarter Schleier, dort ausdrucksvoll geschminkte Augen, mal eine europäische, mal eine asiatische Physiognomie, und schon entsteht ein individuelles und doch abstraktes Panorama menschlicher Verschiedenheit und kultureller Zugehörigkeit. Beeindruckend sind auch die kleinformatigen Porträts, die an beschädigte Freskomalereien ebenso erinnern wie an die viele tausend Jahre alten Mumienporträts. Die Dreidimensionalität, die hier besonders deutlich zutage tritt, rührt von der Verwendung von eingefärbtem Gips, der innerhalb des Rasterbilds ein Eigenleben zu führen beginnt. Die zumeist knallbunten Farben, die Typofragmente sind deutlich als Elemente der Urban Art zu lesen, die gleichzeitig auf ihre berufliche Herkunft aus dem Grafikdesign verweisen, wo sie vor ihrem Entschluss, in die Kunst zu gehen, sehr erfolgreich tätig war.
Chris Gerbing
Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank für die Einladung. Auch ich finde es ausgesprochen schön, dass wir uns im Rahmen der Weintage nicht nur mit herausragenden Weinen, sondern auch mit spannender Kunst umgeben dürfen. Ich freue mich nun besonders, einige einführende Worte zu den faszinierenden Arbeiten der Künstlerin Patrizia Casagranda mit Ihnen zu teilen. An dieser Stelle möchte ich auch die Künstlerin herzlich begrüßen, die heute anwesend ist.
Wenn man an diesem Abend durch die Räume des Frank Loebsches Hauses wandelt, so blicken einem junge, selbstbewusste, schöne Frauengesichter entgegen. Mal erwidern ihre Blicke den des Betrachters, mal schweifen sie über diesen hinweg in die Ferne. Es ist außerdem die Tiefe der vielschichtigen Materialität, die Patrizia Casagrandas Werke so unverwechselbar machen. Und eben diese Vielschichtigkeit ist es, die es für den Betrachter nicht nur grafisch sondern auch inhaltlich zu entschlüsseln gilt.
Patrizia Casagranda, in Stuttgart geboren, schloss 2002 ihr Design-Studium mit Auszeichnung ab und arbeitete daraufhin als Grafikerin unter anderem für Günther Uecker und Markus Lüpertz. Ab 2016 wurde sie dann als freischaffende Künstlerin tätig. Seitdem wurden ihre Werke in zahlreichen Ausstellungen in verschiedensten Ländern gezeigt.
Den ersten Ausgangspunkt ihrer Arbeiten, wie sie sich Ihnen heute präsentieren, fand die Künstlerin in Indien. Dort, wo sie auch heute noch Teile des Jahres lebt, lernte sie höchst außergewöhnliche Mädchen kennen: die einheimischen Müllsammlerinnen. In vielen Teilen Indiens verdienen junge Mädchen und Frauen ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien, indem sie aus teils immensen Müllbergen bestimmte Materialien sammeln und weiterverkaufen.
Inspiriert von der Würde und Zuversicht, mit der diese Frauen ihrer drastischen Lebensrealität gegenübertreten, beginnt Casagranda eine eigene künstlerische Formsprache zu entwickeln, die diese kontrastierenden Themen vereint. Mit den Materialien, häufig Müllfunde der jungen Frauen, entwickelt die Künstlerin zunächst den Hintergrund. Man findet hier unter anderem Fragmente aus Jute, Papier, Pappen, LKW-Planen und Stoffen
wieder. Diese Fragmente sind recycelt und werden von der Künstlerin auf unterschiedlichste Weise verarbeitet. Auf die Materialcollage des Hintergrunds werden dann weitere Elemente aus Graffiti, Schablonen-Technik, Malerei und Typographie aufgetragen. In diesem sehr physischen künstlerischen Prozess entstehen Kompositionen mit bis zu 15 Schichten und einer faszinierenden Tiefenwirkung.
Ein wiederkehrendes Element, dem besondere Wichtigkeit zukommt, ist das Punktraster, das aus einer Mörtel-Gips-Mischung aufgetragen und dann mit der charakteristischen Farbigkeit in Rot, Orange, Blau oder Violett überzogen wird. Tritt man nah an die Werke heran, so erscheint es dem Betrachter als abstraktes Relief. Erst wenn man Abstand nimmt und sich räumlich neu zum Werk verortet, so manifestiert sich aus dem Punktemeer mit einem Mal das ausdrucksstarke Frauenportrait.
Diese Verortung zu Casagrandas Werken prägt den Prozess des Betrachtens. Jeder, der ihren Bildern begegnet, wird also seine eigne Nähe zu ihnen erforschen können - dabei mal die Schönheit der zarten Gesichter betrachten - mal wird man herantreten, in die Abstraktion eintauchend, um die einzelnen gebrauchten Materialschichten, ihr Ineinandergreifen und Übereinanderliegen zu entdecken. So beginnen wir - in stetiger Bewegung - mit den Augen zu ertasten, was sich in Casagrandas Bildwelt verbirgt. Wir beginnen zu entschlüsseln, was die Arbeiten haptisch-assoziativ erfahrbar machen.
Die Künstlerin selbst beschreibt ihren kreativen Schaffensprozess als ein stetiges in Bewegung sein und ein unermüdliches Entwickeln. Uns so hat sie das, was mit der Faszination für die jungen Mädchen in Indien begann, in ihrer Bilderserie mir dem Titel Diversity auf die Repräsentation von Frauen aus aller Welt übertragen. Diesen liegen die gemeinsamen Wertevorstellung von Liebe und Frieden in verschiedenen Religionen zugrunde. Abseits der weiblichen Portraits sehen wir heute auch eine sehr junge Serie von Bildern, die den Titel Die verbotene Frucht trägt und welche formatfüllende Apfeldarstellungen zeigt. An dieser Stelle ist jeder Betrachter und jede Betrachterin dazu angeregt, eigene Assoziationen zuzulassen, die vom biblischen Sündenfall bis hin zu den Verheißungen unserer Zeit reichen können.
Nun möchte ich Sie aber zunächst dazu ermuntern, in die eindrucksvollen Bildwelten der Künstlerin einzutauchen und ich bin mir sicher, dass uns allen ein inspirierender Abend mit künstlerischen und genussvollen Entdeckungen bevorsteht.